LAYERS Buchclub – Kolumne Sechs „Neuanfang“

Von weißen Blättern und Schlüsselmomenten

Neues Jahr, neue Leserunde, neue Bücher, neue Autorinnen und Autoren. Ich bin richtig gespannt darauf welche Werke euch und mich durch 2021 begleiten werden. Zu allererst möchte ich aber wissen wie sich das neue Jahr für euch bisher so anfühlt?

Sarahs Kolumne kannst du dir auch von ihr vorlesen lassen.

Normalerweise stelle ich mir den Beginn eines Jahres wie ein unbeschriebenes, weißes Blatt Papier vor. In mir fühlt sich alles ganz kribbelig an und ich bin ganz neugierig darauf zu sehen, welche Worte, Sätze, Begebenheiten zuerst auf dem Blatt auftauchen werden.

Diesmal fühlt es sich allerdings so an, als wäre das unbeschriebene, weiße Blatt Papier direkt am 01. Januar durch einen Windstoß vom Schreibtisch gefegt worden, um in einer großen Pfütze zu landen, in der es sich so richtig schön mit Wasser vollgesogen hat. Nun liegt das einst weiße, jetzt matschbesprenkelte, Blatt Papier schwer vor sich hin tropfend auf der Heizung und wird während des Trocknens immer welliger. Vielleicht nicht gerade der schwungvollste Start aller Zeiten, aber auch dieses wellige Blatt wird mit Worten, Sätzen und Begebenheiten gefüllt werden und die werden vielleicht noch viel, viel schöner, als es die gegenwärtige Situation erahnen lässt.

Das Lesejahr 2021 beginne ich mit einem Buch, von dem ich überzeugt bin, dass es einiges dazu beiträgt uns zu besseren Menschen zu machen. Besser im Sinne von mitfühlender, toleranter, offener, solidarischer, mutiger und ermutigender.

Ich lese „Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war“ von Linus Giese. Es handelt sich um ein sehr persönliches Buch, denn Linus hieß nicht immer Linus. Linus wurde mit Brüsten, Vagina und Gebärmutter geboren. Er hat im Alter von 31 Jahren seine Stimme gefunden und zum ersten Mal laut ausgesprochen, dass er Linus heißt, dass er ein Mann ist, dass er trans ist und dass er, stellvertretend für alle trans Menschen, ein Recht auf Sichtbarkeit hat.

Durch sein Buch lässt er uns ganz nah an seinem Leben teilhaben. So zum Beispiel am Schlüsselmoment bei Starbucks im Frankfurter Hauptbahnhof, wo er das erste Mal seinen Namen öffentlich ausspricht. Oder an der Odyssee, die er auf sich nehmen muss, um durch ein Gutachten bestätigt zu bekommen, dass er ein Mann ist und somit Zugang zu Testosteronspritzen bekommt. Oder an seinen allerersten Besuch in einer Herrenabteilung, in der er sich selbst endlich mit selbstbestimmten Augen sieht. Oder auch an den vielen dunklen und einsamen Momenten, die er durchlebt.

„Die Herrenabteilung, in die ich ging, befand sich im Untergeschoss. […] Ich kam mir vor, als würde ich etwas Verbotenes tun. Ich hatte das Gefühl, alle starrten mich an und erkannten, dass ich hier falsch war. Ich hatte Angst, andere Männer könnten auf mich aufmerksam werden und mich hinauswerfen. Doch nichts davon passierte.“

Linus war schon immer sehr präsent in den Sozialen Medien. Er schreibt nämlich den wundervollen Buchblog www.buzzaldrins.de und geht seit dem Starbucks-Schlüsselmoment sehr offen mit seiner Transition* um. In erster Linie um sichtbar für alle Menschen zu sein, die genauso fühlen und weil er sich selbst die Existenz einer Identifikationsfigur, insbesondere in jüngeren Jahren, so sehr gewünscht hätte. Neben dem Zuspruch, den Linus für seinen offenen Umgang erfährt, musste und muss er aber auch viele Beschimpfungen und Hassnachrichten über sich ergehen lassen. Das ging mitunter so weit, dass wildfremde Leute an seinen Arbeitsplatz kamen und ihn beleidigten, krude Botschaften in seinen Briefkasten warfen oder vor seiner Wohnungstür verharrten. Ich kann nicht begreifen, dass es nach wie vor Menschen gibt, die ihre Mitmenschen aufgrund ihrer vollkommen eigenen und persönlichen Entscheidungen anfeinden und bedrohen.

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Umso wichtiger ist Linus Buch und sein öffentlicher Auftritt als trans Mensch. Davor habe ich einen riesigen Respekt! Linus lebt ein Leben, über das ich mir noch nie zuvor Gedanken gemacht habe. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mich sein Buch für andere, mir neue Themen und Perspektiven sensibilisiert hat. Auch wenn Linus Giese für das Schreiben seines Buches nicht als mutig bezeichnet werden möchte, hat er doch ein ungemein ermutigendes Buch geschrieben an dem jede:r nur wachsen kann, der / die es liest.

„Ich möchte anderen trans Menschen dabei helfen, sich weniger ängstlich zu fühlen. Natürlich möchte ich auch diejenigen aufklären, die mit diesem Thema noch nicht in Berührung gekommen sind. Ich möchte auf eine Art und Weise über mein Leben schreiben, die sowohl trans Menschen anspricht, als auch Freund*innen und Familienangehörige.“

Linus Giese // Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war // Rowohlt // 2020 // 221 Seiten // 15,00 Euro

Linus arbeitet im Übrigen als Buchhändler im kürzlich eröffneten Berliner Buchladen „She said“. Der unabhängige Buchladen legt den Fokus auf Autorinnen sowie queere Autor:innen und verfügt über einen Online Shop!

 *Als Transition wird der Prozess bezeichnet, in dem eine trans Person soziale, körperliche und / oder juristische Änderungen vornimmt, um die eigene Geschlechtsidentität auszudrücken. Dazu können Hormontherapien und Operationen gehören, aber auch Namens- und Personenstandsänderungen, ein anderer Kleidungsstil und vieles andere. (Quelle: https://queer-lexikon.net/2017/06/08/transition/)

Fragt man Sarah nach einem Lesetipp, steht sie am nächsten Tag mit einem ganzen Stapel ihrer Lieblingsbücher vor der Tür und hat zu jedem eine persönliche Geschichte parat. Ihre besten Schmökertipps teilt sie in ihrer LAYERS Buchkolumne, die ihr euch wahlweise auch von Sarah vorlesen lassen könnt.

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