Ein Kind ist kein Kind? – Von Vorurteilen und Vorteilen des Einzelkinddaseins

Ich sitze mit zwei Freundinnen aus meiner alten Schwangerschaftsgruppe im Café. Unsere Kinder sind inzwischen 4 Jahre alt, gemeinsam sind wir zum ersten Mal Mutter geworden. Eine von uns ist wieder schwanger und das wollen wir feiern. Ich staune – auch für die andere ist es keine Frage:

„Ich will auf jeden Fall auch noch ein zweites Kind. Keine Geschwister? Das will ich meinem Kind nicht antun.“

Nicht antun? Ich fühle mich plötzlich persönlich angegriffen.

Bis eben dachte ich nicht, dass ich meinem Kind Etwas antue.

Ich selbst hatte eine sehr schöne „Einzelkindheit“ und bin nun Mutter einer Tochter. Auch sie wird als Einzelkind aufwachsen. Diese Entscheidung haben mein Mann und ich ganz bewusst und nur für uns getroffen. In den Meinungen der Öffentlichkeit steht das für einen egoistischen „Lifestyle“. Und dann bin ich auch noch so frech, dazu zu stehen. Ohne Rechtfertigung. Typisch Einzelkind!

Wollen wir wirklich so viele Kinder, wie wir bekommen?

Das zweithäufigste Familienmodell in Deutschland ist eine Familie mit zwei Kindern. Platz eins belegen die Singles, Platz drei Einzelkind-Familien, danach folgen Alleinerziehende und dann erst die Großfamilien. Für viele junge Frauen scheint es ein regelrechtes Lebensziel zu sein, mindestens zwei Kinder zu haben.

Auch in meinem Umfeld begegnet mir mehr und mehr dieses Bild der „perfekten Familie“.

Meine Freundin habe selbst eine Schwester und liebe diese sehr. Außerdem sei sie dadurch nie allein gewesen und müsse sich später nicht allein um ihre Eltern sorgen. Nachvollziehbare Argumente. Klingt für mich dennoch irgendwie, als käme das zweite Kind als Geschenk für das Erstgeborene zur Welt.

Die Einzelkind-Schublade

Aber von vorn: Stimmen denn die Klischees über Einzelkinder überhaupt?

Einzelkinder können in frühen Jahren häufig weniger gut teilen als Geschwisterkinder. Logisch, sie hatten zu Hause kaum Übung und lernen das oft erst in Kindergarten und Schule. Aber wo ist das Problem?

Nachdem dies erlernt ist, haben Einzelkinder eine ziemlich entspannte Position: Sie verhalten sich beispielsweise selten aggressiv beim Essen, denn sie wachsen ohne die Befürchtung auf, jemand könnte ihnen etwas wegnehmen. Einzelkinder werden langsamer selbstständig, so heißt es auch.

Mit anderen Worten: Sie sind sehr behütet, genießen die volle Aufmerksamkeit und Unterstützung ihrer Eltern.

Auch nicht das Allerschlechteste für ein kleines Kind, oder? Und machen wir uns nichts vor: Spätestens mit 18 Jahren kann sich jeder die Schuhe selber zubinden, mit oder ohne Geschwister. Jemanden als „Einzelkind“ zu betiteln und damit abwertend Charaktereigenschaften zu beschreiben, ist also ebenso unsinnig, wie ernsthaft alle Blondinen als blöd zu bezeichnen.  

„Warum muss man sich beschämt zeigen, wenn man Einzelkind ist?“

Das Thema begleitet mich auch nach meinem Café-Date und ich höre auf der Heimfahrt einige Podcasts zur Einzelkindfrage. Sechs Podcasts, um genau zu sein, und alle habe ich sie wütend wieder ausgestellt. Warum? Alle haben die gleiche, vorgefertigte, einseitige Meinung zum Thema „Einzelkind“. Offenbar ist es in jedem Fall ein Nachteil, ein Einzelkind zu sein oder „das Verbrechen“ zu begehen, nur eines zu bekommen.

Ich höre, wie sich Einzelkinder beschämt rechtfertigen, weil sie früher ungern teilten.

Mütter argumentieren entschuldigend, warum es ihnen biologisch leider nicht möglich war, ein weiteres Kind zu bekommen. Es gab finanzielle, familiäre, gesundheitliche oder berufliche Gründe. Aber niemand gibt zu, wirklich nur ein Kind gewollt zu haben. Ich bin erstaunt. Warum muss man sich beschämt zeigen, wenn man Einzelkind ist?

Es gibt keine Einzelkind-Persönlichkeit

Laut Forschung gibt es in der Persönlichkeitsentwicklung zwischen Einzel- und Geschwisterkindern keine prägnanten Unterschiede. Es ergeben sich sogar Vorteile für Einzelkinder.

Sie seien selbstbewusster, würden bessere Leistungen in der Schule und der weiteren akademischen Laufbahn zeigen.

Daraus ergeben sich wiederum häufigere Führungspositionen und überdurchschnittlich bessere Ergebnisse bei Intelligenztests.* Berühmte Einzelkinder sind bzw. waren übrigens Jean-Paul Sartre, Elfriede Jelinek, Leonardo Da Vinci, Alice Schwarzer, Lena Meyer-Landrut, Natalie Portman, Erich Kästner und Albert Einstein.

Außerdem wurde festgestellt, dass Hirnareale, die für die Sprachkompetenz, das räumliche Denken sowie für Kreativität und Flexibilität zuständig sind, bei Einzelkindern besser entwickelt sind als bei Kindern mit Geschwistern, hingegen die für Verträglichkeit und Kooperationsbereitschaft aber geringer.** Das alles bleibt dennoch ein Blitzlicht in der Entwicklung, an deren Ende Alleinaufwachsende nicht mehr von Geschwisterkindern unterschieden werden können.

Für wen entscheiden wir wirklich?

Die eigentliche Frage ist doch, für wen wir die Entscheidung über weitere Kinder treffen. Wollen alle Mamas unbedingt mehrere Kinder, oder haben sie das gefälligst zu wollen? Wen es glücklich macht, mit Hingabe viele Kinder großzuziehen, der entscheidet genau richtig.

Aber wie viele leiden eigentlich nur unter „Zugzwang“? Und ist uns das bewusst? Wie frei sind wir in unserem Willen, wenn wir diese Entscheidung treffen?

In meinen Augen ging es in dieser Diskussion nur selten um die Kinder. Stattdessen – mal wieder – um Frauen und was wir von ihnen erwarten. Und es geht um eine möglicherweise antiquierte, mindestens aber zu hinterfragende Vorstellung von Familie. Eine Vorstellung in unserer Gesellschaft und unserem Kulturkreis, die mit der Lebensrealität nicht mitgewachsen zu sein scheint und dieser daher immer weniger entspricht.

Ständig unterliegen wir Vergleichen und Verurteilungen, kaum einer mag mehr einfach nur beschreiben, alle müssen sofort kategorisieren, bewerten, abstempeln:

Kein Kind, ein Kind, sechs Kinder. Nichts davon ist gut genug. Selbstständige sind egoistisch, Berufstätige sind Rabenmütter, Hausfrauen sind faul und Singles sowieso Looser. Wer nicht wieder schlank wird, hat sich aufgegeben, wer nur von den Kindern redet, ist offenbar verblödet, wer das nicht tut, narzisstisch.

Erst wenn wir diese Vergleiche und Urteile aufgeben, kann sich jede frei fühlen, die Anzahl Kinder zu bekommen, die sie will.

Und jeder dieser Sprösslinge entwickelt übrigens einen einzigartigen Charakter, mit und ohne Geschwister. Aus etwa der Hälfte dieser Kinder werden später Frauen, die dann wiederum für sich selbst entscheiden dürfen, ob und wie viele Kinder sie bekommen. Diese Freiheit sollten wir ihnen lassen. Und falls einer von euch demnächst einen Podcast über Einzelkinder aufzeichnet: Ladet mich ein.

Wenn ihr mehr über die Entwicklung von Einzelkindern lesen wollt, schaut mal auf dieser Seite des *Profiling Institutes vorbei, oder lest in diesen **Artikel mit zahlreichen Daten hinein.

Wenn Michelle gerade nicht für uns schreibt, verhilft sie ihren Kunden zu kluger und kreativer Kommunikation. Als Kreative in der Werbung konzipiert sie Kampagnen, schreibt Werbespots und findet die richtigen Worte für einfach alles. Klappt sie den Computer zu, findet ihr Michelle im Garten. Nebenberuflich studiert sie Phytotherapie und gibt schon bald Heilkräuter-Workshops auf einem Bauernhof in der Nähe von Leipzig.

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