Die Sympathielüge – über Freundschaftsheuchelei auf der Arbeit

Sandra Eichhorn vom transform Magazin über den stilvollen Umgang mit Arbeitskollegen

Die Arbeitskultur hat sich geändert. Früher gab es feste Arbeitszeiten, klar definierte Pausen und der Vorgesetzte wurde ordnungsgemäß gesiezt. Kollegen waren Kollegen, Freunde waren Freunde. Neuerdings machen Arbeitgeber aber gern mal auf Kumpel – und wer voll im Trend liegen will, bietet seinen Mitarbeitern Fitnessräume, Spielekonsolen und gemütliche Sitzsäcke.

Aber seien wir mal ehrlich – wirklich uneigennützig ist das nicht. Schließlich handelt es sich um Unternehmen, die trotz aller Freundlichkeit vor allem Umsätze erwirtschaften und Arbeitsplätze sichern müssen.

Der Zweck des Ganzen ist, dass die Angestellten sich praktisch „wie zuhause“ fühlen – also das Büro gar nicht mehr verlassen wollen. Das bedeutet mehr freiwillig geleistete Überstunden und vor allem eine stärkere Bindung ans Unternehmen, was sich letzten Endes für den Chef absolut rechnet. Loyalität ist schließlich unbezahlbar. Und dazu kommt: wer seinen Job verliert, verliert damit gleichzeitig auch sein soziales Umfeld, was schnell einsam machen kann. Sind die einzigen Freunde auch Kollegen, fehlt schlichtweg der Rückhalt aus dem privaten Bereich – selbst (oder vor allem) dann, wenn man selbst kündigt. So steigt die „Ausstiegskosten“ eines Jobs ins Unermessliche an.

Erzwungene Harmonie

Ein besonderes Phänomen in dieser neuen Arbeitskultur sind die „zwanglosen“ Teambuilding-Maßnahmen. In einem Job, bei dem regelmäßig zur After-Work-Party oder zum gemeinsamen Kochen geladen wird, ist kein Platz für fehlende Sympathien, hier ist Harmonie gefragt. Selbstverständlich ist die Teilnahme meist keine Pflicht – aber wie jeder weiß, wird ein Nichterscheinen „nicht gern gesehen“.

Wer fern bleibt, lässt die Kollegen und vor allen den Chef an seiner Teamfähigkeit zweifeln. Aber lässt sich Harmonie überhaupt erzwingen? Vermutlich können nur die wenigsten Menschen ihre Abneigungen auf Knopfdruck ausschalten, um ein paar gesellige Stunden mit Menschen zu verbringen, die man nicht besonders mag. Allein der Versuch kostet viel Energie. Und wozu das Ganze?

Ohne Kritik geht es auch nicht vorwärts

Schließlich hat die Trennung von Beruflichem und Privatem auch seinen Sinn. Wer möchte schon die Arbeit des Kollegen kritisieren, von dem man weiß, dass er gerade mitten im Umzugsstress steckt? Und wer traut sich, einen Betriebsrat zu gründen, wenn man am Tag zuvor noch mit dem Chef zu Abend gegessen und auf ein tolles Arbeitsklima angestoßen hat? Natürlich, niemand. Oft braucht es aber auch mal Reibung, um gute Ergebnisse zu erzielen.

„Wer traut sich, einen Betriebsrat zu gründen, wenn man am Tag zuvor noch mit dem Chef angestoßen hat?“

Ohne konstruktive Kritik findet keine Optimierung statt. Bloß ist man Freunden gegenüber nun mal weniger kritisch, das ist kein Geheimnis. Vor allem dann, wenn man ihre persönlichen Alltagsschwierigkeiten kennt und grundsätzlich verständnisvoll sein möchte, wie es Freunde nun mal von Natur aus sind. Und – mal Hand aufs Herz – irgendwas ist doch immer. Durch die fehlende Distanz zum Privatleben der Kollegen wird ein konstruktives Miteinander nachhaltig erschwert, denn die Kritik fällt milder aus und die Professionalität sinkt.

Zudem haben die erzwungenen Sympathien noch einen weiteren Nachteil: Sie nerven. Seien wir doch mal ehrlich – niemand mag jeden. Und das ist vollkommen in Ordnung. Frau Volkmann aus der Personalabteilung muss die sexistischen Witze von Herrn Gieseking aus der Verwaltung nicht lustig finden. Und die unabhängige Single-Frau will vielleicht nicht ihre Freizeit damit verbringen, sich Kinderfotos in Endlosschleife anzusehen.

Sympathie beruht auf Freiwilligkeit

Die meisten beklagen sich sowieso über zu wenig Zeit für sich selbst oder ihre Freunde und Familie. Das soziale Umfeld, das man sich bewusst (oder zumindest bewusster) ausgesucht hat, bleibt zu oft auf der Strecke.

Und wieso? Weil die Teilnahme an Teamevents nun mal „gern gesehen wird“ – eine schlimmere Formulierung gibt es wohl kaum. Selbstverständlich können aus Kollegen auch Freunde werden. Sehr gute sogar, diese Erfahrung werden die meisten schon einmal gemacht haben.

„Die meisten beklagen sich sowieso über zu wenig Zeit für sich selbst oder ihre Freunde und Familie. Das soziale Umfeld, das man sich bewusst (oder zumindest bewusster) ausgesucht hat, bleibt zu oft auf der Strecke.“

Aber das geschieht dann aus freien Stücken, weil man sich gut leiden kann oder die gleichen Interessen hat. Und genau hier liegt der Hund begraben: Es geht um Freiwilligkeit. Es geht darum, das Recht zu haben, sich Freunde, mit denen man seine Freizeit verbringt, selbst aussuchen zu können. Ob das nun Kollegen sind – oder nicht.

Nehmt eure Zeit wieder in die Hand

Letzten Endes muss jeder für sich selbst Prioritäten setzen. Die Uhr tickt so oder so – aber das Positive ist: wie wir unsere Zeit nutzen, liegt einzig und allein in unseren Händen.

Deswegen ist es vollkommen in Ordnung, auch mal „Nein!“ zu sagen. Es ist wichtig, sich mit Leuten zu umgeben, die man mag und solche zu vermeiden, die einen nur Zeit und Nerven kosten. Wir sollten vielleicht den Mut haben, wieder konsequenter über unsere Freizeit zu bestimmen. Und wir sollten die Arbeit auch mal wieder Arbeit sein lassen.

Tipps fürs stilvolle Absagen

Nichtsdestotrotz ist wohl jedem bewusst, dass ein einfaches „Nein“ (vor allem dann, wenn es zur Standard-Antwort wird), karriereschädigend sein kann. Deswegen hier nur ein paar Tipps, um Einladungen zu Team-Aktivitäten vorsichtig zu umschiffen:

  • Bei besonders wichtigen Firmen-Events sollte man sich sehen lassen, zum Beispiel bei der Weihnachtsfeier – dadurch fällt man insgesamt weniger auf
  • Mit Kollegen, die man wirklich mag, kann man diesbezüglich ruhig offen umgehen und sich dann in kleinerer Runde privat treffen – sie werden es verstehen
  • Ab und an eine kleine Notlüge ist auch mal in Ordnung – was soll man machen, wenn die Verabredung mit der besten Freundin schon seit 2 Wochen geplant war?
  • Nehmen die Aktivitäten unternehmensbedingt überhand und gehen irgendwann die Ausreden aus, bleibt auch die Überlegung, sich einen Job zu suchen, bei dem weniger Heuchelei vonnöten ist – schließlich legt nicht jede Firma gleich viel Wert auf solche Dinge
  • Wenn euch das Feiern verlogen vorkommt, dann geht mit gutem Beispiel voran, sagt ehrlicherweise, dass euch nicht nach Feiern zumute ist oder, dass ihr auch gerne mal alleine seid und Zeit für euch selber braucht. Vielleicht werdet ihr überrascht sein, wieviel Verständnis dafür doch eigentlich herrscht?

Dieser Beitrag erschien auch im transform Magazin. Er wurde verfasst von Sandra Eichhorn, Online-Redakteurin und Social-Media-Mensch mit Wurzeln im klassischen Print-Journalismus. Zeit ist ihr wichtiger als Geld und mit Aussagen wie „weil das immer schon so war“ oder „darüber diskutiere ich jetzt nicht“ kann man sie jagen.

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