Kolumne Thomas Kern: Was von „Wanderlust“ geblieben ist…

Thomas Kern über geile Roadtrips und Wanderlust

Wisst ihr noch? Damals, als das Reisen in ferne Länder noch etwas Besonderes war? Als alle noch große Augen machten, wenn man ankündigte, quer durch Südostasien zu reisen und an anschließenden Fotoabenden interessiert waren? Heute frage ich mich: Hat uns die Selbstverständlichkeit des Reisens abgestumpft? Hat die so vielbeschworene „Wanderlust“ schon die Wandlung zum „Wander-Abfuck“ hinter sich? Reisen wir wirklich noch fürs eigene Seelenheil, oder doch eher für unser Insta-Publikum? Und: Kann man in Zeiten des Massentourismus überhaupt noch mit gutem Gefühl reisen?

Na, habt ihr diesen Sommer auch wieder einen supi-selbstorganisierten Trip durch den Balkan oder Thailand abgerissen? Habt ihr wieder einen geilen Roadtrip durch Kalifornien gemacht, über die „anderen“ Touris geschmunzelt und euch mit dem „Wer erkennt andere deutsche Pärchen zuerst“- Spiel von ihnen abgegrenzt? (Spoiler: Nach karierten kurzen Hosen und verspiegelten Oakley-Sonnenbrillen Ausschau halten) Dann seid ihr – wie ich – dem Trugschluss aufgesessen, dass es tatsächlich noch so etwas wie „Individualreisen“ gäbe. Und wahrscheinlich wollt ihr es bloß noch nicht wahrhaben, obwohl ihr euch über all die Elternzeit-Pärchen, die mit ihren Neuseelandbildern eure Timelines fluten, aufregt.

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Um dem Ganzen erst einmal den reißerischen Clickbait-Charakter zu nehmen: JA, Reisen ist immer noch eine schöne Sache. Jeder, der dem Blick über den Tellerrand nicht gänzlich abgeneigt ist, genießt es, andere Kulturen zu kennenzulernen, neue Eindrücke zu sammeln, Menschen zu treffen oder an Traumstränden abzuhängen. Zu Recht! Und ja, auch ich zähle mich zu denjenigen, die die nächste Reise schon planen, obwohl die aktuelle noch nicht mal ganz vorbei ist. Und trotzdem reist das schlechte Gewissen mittlerweile ebenso mit, wie die Gewissheit, dass die sogenannte „Individualreise“ in dieser Form eigentlich gar nicht mehr so richtig existiert.

Letzteres ist ja eigentlich auch keine Überraschung. Je mehr Individualisten es auf der Welt gibt, desto mehr ähneln sie sich in ihrem vermeintlichen Individualismus. Das liegt in der Natur der Sache und bleibt somit auch beim Reisen nicht aus. Machen wir uns also nichts vor: Kein Ort ist „exklusiv“, weniges bleibt unentdeckt und fast jede Erfahrung hat jemand in ähnlicher Form schon einmal gemacht. Und natürlich wird das in Zeiten von Instagram und Reisevloggern besonders deutlich.

„Je mehr Individualisten es auf der Welt gibt, desto mehr ähneln sie sich in ihrem vermeintlichen Individualismus. Das liegt in der Natur der Sache und bleibt somit auch beim Reisen nicht aus.“

Letztendlich bleiben also dem geneigten Individualtouristen von heute nur zwei Möglichkeiten: Entweder er findet sich damit ab, dass es kaum noch einen Ort gibt, der nur ihm vorbehalten ist und nutzt die Möglichkeiten, die soziale Medien bieten, ganz bewusst um sich Inspiration für die eigene Reise zu holen – oder er begibt sich losgelöst von YouTube, Insta und Co auf die eigene, beschwerliche Suche nach dem Unentdeckten. Und lässt das Handy bewusst mal in der Tasche, wenn er tatsächlich mal einen solchen Ort entdeckt hat.

Das führt uns direkt zum nächsten Punkt: Merken wir’s eigentlich noch? Im wortwörtlichen Sinn. Suchen wir unsere Erfüllung eigentlich noch im tatsächlichen Reisen; im Moment; der-Weg-ist-das-Ziel-mäßig? Oder geht es nicht vielmehr darum, anderen zu präsentieren wo wir sind, was wir erleben? Bilder für Insta, Filter, Posting, Bilder mit der Canon für‘s Album, WhatsApp an Muddi und dann noch ne kleine Story hinterher. Genießen wir noch den Blick auf den Nationalpark oder sehen wir 90% davon ohnehin nur durch den Smartphonebildschirm? Welche verrückten Blüten die Jagd nach dem PERFEKTEN Bild treibt, zeigt der Fall des indischen Bloggerpaares holidaysandhappilyeverafters, die in diesem Sommer beim Versuch, ein besonders atemberaubendes Selfie zu schießen, eine Klippe in Yosemite- Park in den Tod hinabstürzten.

„Bilder für Insta, Filter, Posting, Bilder mit der Canon für‘s Album, WhatsApp an Muddi und dann noch ne kleine Story hinterher. Genießen wir noch den Blick auf den Nationalpark oder sehen wir 90% davon ohnehin nur durch den Smartphonebildschirm?“

Thomas Kern Kolumne Wanderlust

Übrigens: Nicht nur auf der Jagd nach dem perfekten Posting, sondern auch nach den rar gesäten, weißen Flecken auf der Landkarte bringen sich immer mehr Reisende in Lebensgefahr. Denn die wenigen Orte, die noch wirklich touristenfrei sind, sind das auch aus gutem Grund. Diese Erfahrung musste erst kürzlich ein US-Tourist in Indien machen, der beim Versuch auf eine abgelegene Insel zu gelangen, von einem indigenen Stamm angegriffen und getötet wurde.

Natürlich sind das Extrembeispiele. Sie zeigen aber ganz gut, wie unsere Wanderlust stellenweise aus dem Ruder gelaufen ist. Müssen wir uns eventuell einfach damit abfinden, dass wir kein Reiseziel auf der Welt noch exklusiv für uns haben? Vielleicht gibt es so etwas wie Individualreisen einfach nicht mehr und auch du musst der Tatsache ins Auge blicken, dass es keinen großen Unterschied mehr zwischen dir und dem Liegenreservierer im Club Hotel auf Gran Canaria gibt. Ganz offensichtlich hat jede Form des Urlaubs ihre eigenen verrückten Ausprägungen. Die eine ist nur offensichtlich etwas tödlicher als die andere.

„Müssen wir uns eventuell einfach damit abfinden, dass wir kein Reiseziel auf der Welt noch exklusiv für uns haben?“

Und ganz nebenbei: Vielleicht, nur vielleicht, sollte auch eine Rolle spielen, dass man viele schöne Momente, tolle Orte und gute Fotomotive auch in der heimischen Region findet – Stichwort „ökologischer Fußabdruck“. Denn ihr wisst ja, eine Flugreise verbraucht so viel CO2 wie (insert absurder Vergleich here). Schlimmer ist nur noch ne AIDA- Kreuzfahrt. Fakt.
Wie dem auch sei. Ich muss diesen Text jetzt beenden, denn ich muss mir noch meine Backpacking-Route für meine Südostasienreise im Frühling raussuchen, bevor ich mich meiner Ryanair-Flugbuchung zum Christmas-Shopping in London widme. Wir sehen uns in der Hölle. Bis dahin…

Bilder von amoureuxee

Thomas ist freier Texter aus Leipzig. Hier quält er sich durch Kreativprozesse, beerdigt hin und wieder Menschen und schreibt regelmäßig für uns über die Abgründe der Medienwelt.

2 Kommentare

  1. Karin

    Was stört hier eigentlich wirklich?
    Es wird mittlerweile auf alles geschimpft…zu viele Leute am Spot, das Wort Vanlife wird verteufelt und und und.
    Wie überraschend ist es wirklich das dies so eine Entwicklung angenommen hat? Das es „plötzlich“ so viele machen?
    Ich glaube ja eher…es waren schon fast immer so viele…nur ist es durch Facebook, Instagram und co eben präsenter.

    Warum wird nur alles verteufelt sobald aus einer Nische vielleicht ein „massen“- Phänomen wird?! Profitieren nicht auch viele davon? Aber im unkehrschluss leider natürlich auch vieles darunter.

    In diesem Sinne…einen schönen dritten Advent aus Portugal 😉

  2. Andreas

    Es gibt schon noch abgelegene, touristisch nicht überlaufene, unentdeckte Gegenden auch in Deutschland, z. B. auf der Insel Usedom in der sog. Haffregion, wo es uralte, teilweise fast menschenleere Dörfer gibt und wo man auf abgelegenen, fast zugewachsenen Wegen oft tagelang keinen einzigen Menschen trifft. Nur sind diese Gegenden eben keine Hotspots und liegen auch nicht in Asien.

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