Das Rezept gegen Corona-Kurven

Unzählige Apps und kluge Ratgeber führen uns immer wieder vor Augen, wie faul wir wirklich sind. Doch selbst die besonderste Heldin wird irgendwann einmal aus diesem Winter aufwachen: Möglicherweise mit Rückschmerzen und einem Entsetzen, denn das ganze Rumgesitze und Kartoffelchipsgefuttere hinterlässt unübersehbare Kurven. Vorläufige Diagnose: Corona hat eine fiese Nebenwirkung. Doch es gibt bereits ein Rezept dagegen. Und das macht auch noch glücklich.

„Vorläufige Diagnose: Corona hat eine fiese Nebenwirkung.“

Ich sitze an meinem Schreibtisch. Wie so oft, würde ich gern schreiben. Denn vor Monaten noch war das eine heldenhafte Erzählung von sich: Ich sitze, also arbeite ich. Heute sind wir Helden im Nichstun, denn wir sitzen die ganze Zeit, der Feierabend wechselt lediglich den Modus ins Liegen. Ich frage mich: Bin ich der richtige Ansprechpartner, einen Beitrag über Fitness im Lockdown zu schreiben? Aber gerade, weil ich selbst jede Fitness-App, alle Jogging-Ratgebertexte und Yoga-YouTube Videos bereits gesehen und wieder aus meinem Leben verbannt habe, bin ich das. Schließlich stehe ich noch immer vor der Herausforderung, meine aktuelle Hosenweite immerhin zu halten.

Wer Sport schon seit jeher weiträumig umfahren hat, der wird es in diesen Wochen schwer haben. Die heimische Küche ist gut gefüllt, unser Lieblingsgericht gibt’s jetzt jeden Tag und der kleine Naschgang zum Kühlschrank ist nicht selten die längste Laufdistanz, die wir am Tag hinlegen. Doch wir müssen keine großen Sportler werden oder uns zum Fasten zwingen. Die einfachste Art des Sports ist nämlich streng genommen gar kein Sport. Die wahre Kunst des Laufens wird durch ihr Tempo bestimmt und das ist im besten Fall besonders langsam: Der Spaziergang erspart uns nicht nur das Tragen von unseren alten Volleyball-T-Shirts oder viel zu engen Leggins, er lässt uns auch Zeit zum Atmen, zum Beobachten und zum Sprechen. Und das soll Sport sein? Ja, dafür müssen wir es nur jeden Tag tun. Noch einmal zum Mitschreiben: Wir spazieren jetzt nicht nur wie jeder andere auch an einem schönen, sonnigen Wochenend-Nachmittag. Oh nein: Jeden Tag, siebenmal die Woche.

Wie das bloß gehen soll, wenn doch so gar keine Zeit ist?

Ganz einfach: Wir nehmen unsere Aufgaben einfach mit. Egal, ob Telefonate oder Kinder, Zoom-Meetings, Podcasts oder das Feierabend-Bier. Wir ziehen unsere Jacke über, legen den Schal an und nehmen das alles mit vor die Tür. In ausschweifenden Spaziergängen lernen wir unsere Umgebung ganz neu zu schätzen, denn meistens kennen wir sie ohnehin nur vom Vorbeirauschen. Jetzt können wir jedes Blatt dabei beobachten, wie es sich ganz langsam hin-und-her zu Boden fallen lässt. Genauso tun wir es auch. Das Ziel ist dabei gar nicht mehr so wichtig, entscheidend ist einfach nur, uns ganz langsam nach vorne fallen zu lassen.

Zu Beginn sind das vielleicht nur 45 Minuten am Tag, umgerechnet etwa 4000 Schritte. Dann arbeiten wir uns langsam hoch. Schon nach einer Woche fühlen wir uns nicht mehr wohl, unter einer Stunde am Tag draußen zu sein. Nicht nur, dass unsere Hose kneift, auch die dicke Luft in unseren Wohnungen und der Mangel an Sonnenstrahlen machen unserem Kopf zu schaffen.

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Bei einer Stunde laufen kommen wir auf immerhin respektable 5000 Schritte. Das sind fünftausend neue Gedanken, die wir fassen können, die unsere Arbeit und unser Sozialleben bereichern werden. Schon bald führen wir ellenlange Gespräche mit alten Freunden und sind dafür nicht weniger als anderthalb Stunden draußen. Den Park in der Nähe haben wir schon längst hinter uns gelassen. Wer im Park spazieren geht, macht nichts falsch, aber wir sind ja keine Anfänger mehr. Den Weg zum Supermarkt haben wir bereits neu erfunden, er führt in einem opulenten Bogen durch die ganze Stadt, schrammt kurz an der Autobahnausfahrt vorbei, führt uns vorbei an Seen und Sträuchern. Unser Herz füllt sich mit Glück, denn die Sonne schafft es auch durch dickste Wolken hindurch und presst aus unserem Körper die eiserne Reserve am Botenstoff Serotonin heraus.

„Wer im Park spazieren geht, macht nichts falsch, aber wir sind ja keine Anfänger mehr.“

Nach wenigen Wochen freuen wir uns jeden Tag, das gleiche Eichhörnchen an seinem Baum hochkrabbeln zu sehen und grüßen die ältere Dame aus dem Nachbarviertel. Wir sind erleichtert, endlich einen Grund zu haben, uns wieder ein bisschen schick zu machen und laufen jeden Tag zwei Stunden, also sportliche 10.000 Schritte. Und das ist noch nicht einmal der Olymp! Ärzte versuchen schon seit Jahren zu sagen, dass wir jeden Tag 10.000 Schritte laufen sollten, es hört nur keiner auf sie.

Ein normaler Mensch kommt bei einem gemäßigten Schritttempo dann auf etwa sieben Kilometer und verbrennt 550 Kilokalorien. Wir könnten das wieder wettmachen: Mit einer halben Tüte Chips wären die ganzen Kalorien gleich wieder drauf. Wann aber sollen wir das schaffen? Schließlich haben wir für sowas ja keine Zeit mehr.

Bilder: Sophie Valentin.

Als Autor und freier Journalist ist Richard mit der Forschung am guten Leben beschäftigt. Er war Mitgründer des transform Magazins und arbeitete dort in der Chefredaktion bis 2019. Anschließend erschien von ihm das Taschenbuch Landreisen. Weitere Veröffentlichungen von Richard sind zu finden bei GEO Saison, der Freitag oder ze.tt (ZEIT Online). Für LAYERS schreibt er über aufregende Reisen, die Schönheit der Langsamkeit im Alltag und das Leben als frisch gebackener Papa.

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